Jeden Freitag veröffentlichen wir einen kurzen Beitrag von Randall Wray, der schrittweise eine umfassende Theorie aufbaut, wie Geld in souveränen Ländern "funktioniert". Die Beitragsserie entstammt der Einführung in die "Modern Monetary Theory" (MMT) von Randall Wray aus dem Jahre 2011 auf der Website „New Economic Perspectives“ und wurde von Michael Paetz und Robin Heber ins Deutsche übersetzt. Zudem wird Vorstandsmitglied Dirk Ehnts jeden Freitagabend von 19-20 Uhr auf Facebook Fragen zum Beitrag der Woche beantworten. Ihr könnt uns natürlich auch gerne Fragen über das Emailformular (unten auf dieser Seite) schicken.
Von L. Randall Wray
Diese Woche beginnen wir mit einem neuen Thema: funktionale Finanzen. Das wird uns in einigen zukünftigen Beiträgen beschäftigen. Heute werden wir den politischen Ansatz von Abba Lerner erläutern. In den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelte er etwas, dass er den funktionalen Finanzansatz (Functional Finance) der Politik nannte, den Lerner zufällig am UMKC lehrte, als er eine seiner berühmtesten Arbeiten veröffentlichte, in der er den Ansatz erläuterte: Vielleicht liegt in Kansas City etwas Besonderes in der Luft?
Lerners funktionaler Finanzansatz
Lerner stellte zwei Grundsätze auf:
Erster Grundsatz: Wenn das inländische Einkommen zu niedrig ist, muss die Regierung mehr ausgeben. Arbeitslosigkeit ist ein hinreichender Beweis für diesen Zustand. Wenn also Arbeitslosigkeit besteht, bedeutet dies, dass die Staatsausgaben zu niedrig sind.
Zweiter Grundsatz: Wenn der inländische Zinssatz zu hoch ist, bedeutet dies, dass der Staat mehr "Geld" bereitstellen muss, meist in Form von Reserven.
Die Idee ist ziemlich einfach. Eine Regierung, die ihre eigene Währung herausgibt, hat den fiskal- und geldpolitischen Spielraum, um die Wirtschaft zur Vollbeschäftigung zu führen und ihre Zinsen auf das Niveau zu bringen, das sie haben möchte. (Wir werden später noch auf Wechselkursregime eingehen; ein System fester Wechselkurse erfordert eine Änderung dieser Aussage). Für eine souveräne Nation ist "Erschwinglichkeit" kein Thema - sie gibt Geld aus, indem sie Bankkonten mit ihren eigenen Schuldscheinen erhöht, etwas, das ihr nie ausgehen kann. Wenn es arbeitslose Arbeitskräfte gibt, kann die Regierung es sich immer leisten, sie einzustellen - und arbeitslose Arbeitskräfte sind per Definition bereit, für Geld zu arbeiten.
Lerner erkannte, dass dies nicht bedeutet, dass die Regierung so Geld ausgeben sollte, als ob der "Himmel die Grenze" wäre - unkontrollierte Ausgaben wären inflationär. Als Lerner zum ersten Mal den funktionalen Finanzansatz formulierte (Anfang der 1940er Jahre), war die Inflation keine große Sorge - die USA hatten kürzlich zuvor in der Weltwirtschaftskrise eine Deflation durchlebt. Im Laufe der Zeit wurde die Inflation jedoch zu einem ernsten Problem. Lerner nahm an, dass Inflation entsteht, wenn sich die Wirtschaft der Vollbeschäftigung nähert und schlug eine Form der Lohn- und Preiskontrolle vor, um die Inflation einzudämmen. Ob dies ein wirksamer und erwünschter Weg ist, den Inflationsdruck zu mindern, ist hier nicht unsere Frage. Der Punkt ist, dass Lerner argumentierte, dass die Regierungen ihre Kaufkraft nutzen sollten, um die Wirtschaft auf Vollbeschäftigung zuzubewegen – und gleichzeitig erkannte, dass sie möglicherweise Maßnahmen zur Bekämpfung der Inflation ergreifen müssten.
Lerner lehnte den Begriff der "gesunden Finanzen" (sound finance) ab, d.h. den Glauben daran, dass der Staat seine Finanzen wie ein Haushalt oder ein Unternehmen verwalten sollte. Er sah keinen Grund dafür, dass die Regierung versuchen sollte, ihren Haushalt jährlich, im Laufe eines Konjunkturzyklus oder überhaupt auszugleichen. Für Lerner war eine "gesunde" Finanzierung (Budgetausgleich) nicht "funktional" - sie trug nicht dazu bei, den öffentlichen Zweck (einschließlich z.B. der Vollbeschäftigung) zu erreichen. Wenn der Haushalt gelegentlich ausgeglichen sei, dann sei es eben so; aber, es sei aber auch kein Problem, wenn er nie ausgeglichen sei.. Er lehnte auch jeden Versuch ab, das Haushaltsdefizit unter einem bestimmten Verhältnis zum BIP zu halten, ebenso wie jede willkürliche Verschuldung im Verhältnis zum BIP. Das "richtige" Defizit wäre dasjenige, das Vollbeschäftigung erreicht.
Ebenso wäre die "richtige" Schuldenquote diejenige, die mit der Erreichung des gewünschten Zinsziels vereinbar ist. Dies ergibt sich aus seinem zweiten Grundsatz: Wenn die Regierung zu viel Schulden macht, hat sie aus dem gleichen Grund zu wenig Bankreserven und Bargeld ausgegeben. Die Lösung besteht darin, dass das Finanzministerium und die Zentralbank den Verkauf von Anleihen einstellen und dass die Zentralbank auf dem offenen Markt Käufe tätigt (Kauf von staatlichen Schuldverschreibungen durch Gutschrift von Reserven bei den verkaufenden Banken). Auf diese Weise kann der Leitzins sinken, da die Banken mehr Reserven erhalten und die Öffentlichkeit mehr Bargeld erhält.
Im Wesentlichen besagt das zweite Prinzip nur, dass die Regierung den Banken, Haushalten und Unternehmen die Möglichkeit geben sollte, das gewünschte Portfolio-Gleichgewicht zwischen "Währung" (Reserven und Bargeld) und Anleihen zu erreichen. Daraus folgt, dass der Verkauf von Staatsanleihen nicht wirklich eine "Kreditaufnahme" ist, die erforderlich ist, damit das Staatsdefizit ausgegeben werden kann, sondern dass der Verkauf von Anleihen Teil der Geldpolitik ist, die der Zentralbank helfen soll, ihr Zinsziel zu erreichen. All dies steht im Einklang mit der modernen Sichtweise des Geldes, wie sie früher entwickelt wurde.
Funktionale Finanzen versus Aberglaube
Der funktionale Finanzansatz von Lerner geriet in den 1970er Jahren weitgehend in Vergessenheit. In der Tat wurde er in der akademischen Welt durch etwas ersetzt, das als "staatliche Budgetbeschränkung" bekannt ist. Auch diese Idee ist einfach: Die Ausgaben einer Regierung werden durch ihre Steuereinnahmen, ihre Fähigkeit, Kredite aufzunehmen (Anleihen zu verkaufen) und "Geld zu drucken" eingeschränkt. In dieser Sichtweise gibt die Regierung ihre Steuereinnahmen wirklich aus und leiht sich Geld von den Märkten, um den Ausfall von Steuereinnahmen zu finanzieren. Wenn alles andere scheitert, kann sie die Druckerpressen laufen lassen, aber die meisten Ökonomen verabscheuen diese Tätigkeit, weil sie als hochinflationär gilt. Tatsächlich bezeichnen Ökonomen Hyperinflationsepisoden - wie die deutsche Weimarer Republik, die Erfahrungen Ungarns oder in der Neuzeit Simbabwe - immer wieder als eine Warnung vor der "Finanzierung" von Ausgaben durch das Drucken von Geld.
Beachten Sie, dass hier zwei miteinander verbundene, fehlerhafte Punkte angesprochen werden. Erstens ist die Regierung ähnlich wie ein Haushalt "eingeschränkt". Ein Haushalt verfügt über Einkommen (Löhne, Zinsen, Gewinne), und wenn dieses nicht ausreicht, kann er durch Kreditaufnahme bei einer Bank oder einem anderen Finanzinstitut ein Defizit aufweisen. Es wird zwar anerkannt, dass der Staat auch Geld drucken kann, was Haushalte nicht tun können, aber dies wird als außergewöhnliches Verhalten angesehen - als eine Art letzter Ausweg. Es wird nicht anerkannt, dass alle Ausgaben der Regierung in Wirklichkeit durch Gutschriften auf Bankkonten erfolgen - Tastaturanschläge, die eher dem "Gelddrucken" als dem "Ausgeben aus dem Einkommen" ähneln. Der zweite Punkt ist, dass die konventionelle Sichtweise nicht anerkennt, dass sich die Regierung als Herausgeberin der souveränen Währung nicht wirklich auf die Steuerzahler oder Finanzmärkte verlassen kann, um sie mit dem "Geld" zu versorgen, das sie braucht. Von Anfang an können Steuerzahler und Finanzmärkte der Regierung nur das "Geld" zur Verfügung stellen, das sie von der Regierung erhalten haben. Das heißt, die Steuerzahler zahlen Steuern mit den von der Regierung herausgegebenen Schuldscheinen; die Banken verwenden die eigenen Schuldscheine der Regierung, um Anleihen von der Regierung zu kaufen.
Diese Verwirrung der Wirtschaftswissenschaftler führt dann zu den von den Medien und den politischen Entscheidungsträgern verbreiteten Ansichten: Eine Regierung, die ständig mehr als ihre Steuereinnahmen ausgibt, "lebt über ihre Verhältnisse" und flirtet mit der "Zahlungsunfähigkeit", weil die Märkte schließlich "den Kredithahn zu machen" werden. Sicherlich machen die meisten Makroökonomen diese Fehler nicht - sie räumen ein, dass eine souveräne Regierung in ihrer eigenen Währung nicht wirklich zahlungsunfähig werden kann. Sie wissen, dass eine Regierung alle Versprechungen machen kann, wenn sie fällig werden, weil sie "die Druckerpressen laufen lassen kann". Dennoch erschaudern sie bei dem Gedanken - denn das würde die Nation den Gefahren einer Inflation oder Hyperinflation aussetzen. Die Diskussion der politischen Entscheidungsträger - zumindest in den USA - ist weitaus verwirrender. So hat Präsident Obama beispielsweise im Laufe des Jahres 2010 häufig behauptet, dass der US-Regierung "das Geld ausgeht" - wie ein Haushalt, der sein gesamtes gespartes Geld aus einer Keksdose ausgegeben hat.
Wie sind wir nur an diesen Punkt gelangt? Wie konnten wir vergessen, was Lerner klar verstanden und erklärt hat?
In einem sehr interessanten Interview in einem von Mark Blaug produzierten Dokumentarfilm über John Maynard Keynes erklärte Paul Samuelson:
"Ich glaube, es gibt ein Element der Wahrheit in der Ansicht, dass der Aberglaube [notwendig ist], dass der Haushalt jederzeit ausgeglichen sein muss. Wenn dieser erst einmal entzaubert ist, nimmt er eines der Bollwerke weg, die jede Gesellschaft gegen außer Kontrolle geratene Ausgaben haben muss. Es muss bei der Zuteilung von Ressourcen Disziplin herrschen, sonst entsteht anarchistisches Chaos und Ineffizienz. Und eine der Funktionen der altmodischen Religionen bestand darin, die Menschen durch manchmal als Mythen angesehene Dinge zu erschrecken, damit sie sich so verhalten, wie es das zivilisierte Leben auf lange Sicht erfordert. Wir haben den Glauben an die immanente Notwendigkeit, den Haushalt auszugleichen - wenn schon nicht in jedem Jahr, so doch [dann] in kurzen Zeiträumen - ausgelöscht. Würde Premierminister Gladstone wieder zum Leben erwachen, würde er sagen "uh, oh, was du getan hast", und auch James Buchanan argumentiert in diesem Sinne. Ich muss sagen, dass ich in dieser Sichtweise einen Verdienst sehe"
Der Glaube, dass die Regierung ihren Haushalt über einen gewissen Zeitraum ausgleichen muss, wird mit einer "Religion" verglichen, einem "Aberglauben", der notwendig ist, um der Bevölkerung Angst einzujagen, damit sie sich in einer gewünschten Weise verhält. Andernfalls könnten die Wähler von ihren Gewählten verlangen, dass sie zu viel ausgeben, was zu Inflation führen würde. Daher hat die Ansicht, dass ausgeglichene Haushalte wünschenswert sind, nichts mit "Erschwinglichkeit" zu tun, und die Analogien zwischen einem Haushalts- und einem Staatshaushalt sind nicht korrekt. Vielmehr ist es notwendig, die Staatsausgaben mit dem "Mythos" einzudämmen, eben weil der Haushalt nicht wirklich mit einer Budgetbeschränkung konfrontiert ist.
Die USA (und viele andere Nationen) sahen sich von Ende der 1960er bis in die 1990er Jahre (zumindest periodisch) tatsächlich einem Inflationsdruck ausgesetzt. Diejenigen, die glaubten, die Inflation sei auf zu hohe Staatsausgaben zurückzuführen, trugen dazu bei, die Schaffung einer ausgeglichenen Haushalts-"Religion" zur Bekämpfung der Inflation zu fördern. Das Problem ist, dass das, was anfangs von Ökonomen und Politikern als "Mythos" anerkannt wurde, nun als die Wahrheit geglaubt wird. Man entwickelte ein falsches Verständnis.
Ursprünglich war der Mythos "funktional" in dem Sinne, dass er eine Regierung einschränkte, die sonst zu viel ausgeben würde, was zu Inflation führen und die Bindung des Dollars an Gold gefährden würde. Aber wie viele nützliche Mythen wurde auch dieser Mythos schließlich zu einem schädlichen Mythos - ein Beispiel für das, was John Kenneth Galbraith einen "unschuldigen Betrug" nannte, einen ungerechtfertigten Glauben, der richtiges Verhalten verhindert. Souveräne Regierungen begannen zu glauben, dass sie es sich wirklich nicht "leisten" konnten, die gewünschte Politik zu betreiben, im Glauben, sie könnten zahlungsunfähig werden. Ironischerweise behauptete Präsident Obama inmitten der schlimmsten Wirtschaftskrise seit der Großen Depression der 1930er Jahre wiederholt, dass der US-Regierung "das Geld ausgegangen sei" - dass sie es sich nicht leisten könne, die Politik zu betreiben, die die meisten für wünschenswert hielten. Als die Arbeitslosigkeit auf fast 10% stieg, war die Regierung wie gelähmt - sie konnte nicht die Politik verfolgen, die Lerner befürwortete: Genug Ausgaben tätigen, um die Wirtschaft wieder auf Vollbeschäftigung auszurichten.
Ironischerweise folgte die Fed (wie auch einige andere Zentralbanken, darunter die Bank of England und die Bank of Japan) während der gesamten Krise im Wesentlichen dem zweiten Prinzip von Lerner: Sie stellte mehr als genug Bankreserven zur Verfügung, um den Tagesgeldsatz auf einem Zielwert von nahezu Null zu halten. Dies geschah durch den Ankauf von Finanzaktiva von Banken (eine Politik, die als "quantitative Lockerung" bekannt ist), und zwar in Rekordvolumen (1,75 Billionen Dollar in der ersten Phase, mit geplanten zusätzlichen 600 Milliarden Dollar in der zweiten Phase). Der Vorsitzende Bernanke wurde im Kongress tatsächlich darüber ausgefragt, woher er das gesamte "Geld" für den Kauf dieser Anleihen hatte. Er erklärte (korrekterweise), dass die Fed es einfach durch die Gutschrift von Bankreserven durch Tastenanschläge geschaffen hat. Der Fed kann das "Geld" nie ausgehen; sie kann es sich leisten, alle finanziellen Vermögenswerte zu kaufen, die die Banken zu verkaufen bereit sind. Und doch glaubt der Präsident (wie auch viele Wirtschaftsvertreter und die meisten Politiker im Kongress), dass der Regierung "das Geld ausgeht"! Es gibt viele "Tastenanschläge", um finanzielle Vermögenswerte zu kaufen, aber keine "Tastenanschläge", um Löhne zu zahlen.
Das zeigt, wie dysfunktional der Mythos geworden ist.
Nächste Woche werden wir zeigen, dass etwas Luft aus Kansas City nach Nordosten in die Bastion der freien Marktwirtschaft abgedriftet sein könnte: an die Universität von Chicago
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