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Wie “realitätsfern” ist ein kostenloser ÖPNV?


In den letzten Tagen sind sie mir wieder vermehrt über den Weg gelaufen: Kontrolleur*innen der BVG. Nahezu jedes Mal, wenn ich sie treffe, werden sie bei ihrer Suche nach Menschen ohne Ticket fündig. Regelmäßig sieht man sie an den Bahnsteigen, teilweise in Begleitung von mehreren Polizist*innen, bei der Aufnahme von Personalien. Eine einfache Fahrt innerhalb des S-Bahn-Rings kostet in Berlin 3,20 € - ein stolzer Preis, besonders für Menschen mit geringem Einkommen.


Nun würden viele Menschen wahrscheinlich argumentieren, dass es für die betroffenen Personen vielleicht tragisch sein mag, wenn diese sich kein Ticket leisten können, die verhängten erhöhten Beförderungsentgelte (60 € in Berlin), Geld- oder Ersatzfreiheitsstrafen aber letztendlich notwendig seien, um Menschen von der sogenannten „Leistungserschleichung“ abzuhalten. Diese Praxis des Ticketverkaufs und der Kontrolle wird damit begründet, dass der Staat nicht in der Lage sei, seiner Bevölkerung einen kostenlosen ÖPNV bereitzustellen.


Dabei ist es schon heute so, dass Zahlungen der Bundesländer einen großen Teil der Gesamteinnahmen ihrer Verkehrsbetriebe ausmachen. Das Land Berlin etwa trägt über 50 % der Kosten seines öffentlichen Nahverkehrs, der Rest wird durch Ticketverkäufe und sonstige Einnahmen (z.B. aus Werbung) finanziert. Die FDP nennt die Idee eines kostenlosen ÖPNV eine “realitätsferne Verzweiflungstat", Verkehrsminister Volker Wissing warnt vor zusätzlicher Belastung für Steuerzahler*innen.


Doch ist das wirklich so? Können wir uns einen kostenlosen Nahverkehr nicht leisten, weil uns dafür die finanziellen Mittel fehlen? Müssten wir die Steuern erhöhen oder an anderer Stelle kürzen, wenn Bus und Bahn morgen kostenlos wären? Welche Vorteile könnte ein kostenloser ÖPNV mit sich bringen? Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir zunächst einige finanzpolitische Mythen ausräumen.

Staatliches Geld ist nicht knapp


„Anything we can actually do, we can afford.” ist ein Zitat des berühmten Ökonomen John Maynard Keynes, welcher mit seinen Werken die theoretische Grundlage für die erfolgreiche Wirtschaftspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg, inklusive des deutschen “Wirtschaftswunders”, schuf. Doch wie ist dieses Zitat gemeint? Keynes bringt mit seinen Worten eine zentrale Einsicht auf den Punkt, wie sie heute unter anderem von Vertreter*innen der Modern Monetary Theory (MMT) proklamiert wird: Als Währungsherausgeber ist ein souveräner Staat in finanzieller Hinsicht nicht limitiert. Es sind die natürlichen Ressourcen; die Rohstoffe, das technische Wissen und das (organisierte) Personal und dessen Arbeitskraft, welche den Flaschenhals der Möglichkeiten bilden. Warum das so ist und wie staatliche Geldschöpfung im Detail funktioniert, wird z.B. hier erklärt.


Grundlegendes Wissen über die Funktionsweise unseres Geldsystems fehlt nicht nur in weiten Teilen der Gesellschaft, sondern leider auch in der Politik. Dies wird nicht zuletzt deutlich, wenn Angela Merkel den Staat mit einem Privathaushalt, bzw. einer schwäbischen Hausfrau vergleicht oder Christian Lindner den Gürtel in Form der Schuldenbremse wieder enger schnallen will, obwohl wichtige Investitionen zur Bekämpfung des Klimawandels und der steigenden Ungleichheit fehlen und die Volkswirtschaft droht, durch hohe Energiepreise und gestiegene Zinsen in eine Rezession zu rutschen. Wer wie Keynes verstanden hat, dass der Staat als Herausgeber der staatlichen Währung gänzlich andere Handlungsmöglichkeiten als ein Privathaushalt (ein sogenannter Währungsnutzer) hat, muss bei Schulden nicht in irreführenden moralischen Kategorien denken. Staatsausgaben sind nicht böse, schlecht oder verwerflich, sondern bringen uns als gezielte Ausgaben Wohlstand, indem sie die Wirtschaft ankurbeln, soziale Sicherungsnetze schaffen und für den Aufbau und den Erhalt öffentlicher Infrastruktur sorgen.


Schöpft der Staat Geld, um damit etwa den öffentlichen Nahverkehr auszubauen und kostenlos zu betreiben, profitieren davon sowohl die Nutzer*innen des ÖPNV als auch jene Planer*innen, Bauarbeiter*innen und Zugführer*innen, die dieses staatliche Geld nun in Form von Guthaben auf ihren Privatkonten wiederfinden. Um Profit geht es beim Betrieb öffentlicher Infrastruktur nicht - genau wie Straßen, Brücken und Schulen keinen Profit abwerfen oder sich selbst „finanzieren“ müssen. Entscheidend ist also allein die Frage, ob es genügend reale Ressourcen gibt, auf die der Staat zur Erfüllung seiner öffentlichen Aufgaben zurückgreifen kann – Alles, was wir tatsächlich tun können, können wir uns auch [finanziell] leisten.


Neben den Menschen profitieren auch Unternehmen, wenn ihre Mitarbeiter*innen günstig und schnell an ihren Arbeitsplatz gelangen. Dafür braucht es neben der kostenlosen Mitnahme eine langfristige Ausbaustrategie und Investitionen in zusätzliche Kapazitäten. Bei einem flächendeckendem, kostenlosen Nahverkehr könnte sich der Staat zudem die aufwendige Ticket-Infrastruktur und die Ticketkontrollen sparen und etwa 7.000 Menschen aus deutschen Gefängnissen entlassen, die dort wegen fehlender Fahrscheine zurzeit eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen.


Statt nicht endende Debatten über Finanzierungsfragen zu führen, sollten wir unseren Blick auf unsere verfügbaren Ressourcen wenden und diese im Sinne einer nachhaltigen und sozial gerechten Zukunft mobilisieren. Ein kostenloser öffentlicher Nahverkehr könnte nicht nur einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz leisten - er würde Menschen mit geringem Einkommen auch eine größere Teilhabe am öffentlichen Leben ermöglichen und uns damit als Gesellschaft näher zusammenbringen. Ein 49 €-Ticket ist dagegen besonders aus sozialer Sicht keine entscheidende Verbesserung. Luxemburg macht es derweil vor und hat als erstes Land der Welt die Fahrpreise für alle öffentlichen Verkehrsmitteln gestrichen. Wissing und Co. verbreiten derweil weiter Mythen über das Geldsystem und betreiben Klientelpolitik, statt sich der gesellschaftlichen Herausforderungen anzunehmen.


[Von Jannik Strobl]

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